Das Verachtete
Gestern bin ich beim Bibellesen auf einen Text gestoßen, der mich überwältigt hat. Es war wie ein warmer, heller Lichtstrahl in meinen grauen Alltag, der mich erfrischt aber gleichzeitig auch Unangenehmes offenbart hat. Es geht um den Abschnitt aus Jeremia 15,15-21.
Jeremia war ein Prophet des Herrn, der viel leiden musste. Er hatte so viele Gerichtsbotschaften dem Volk zu überbringen, wobei diese ihm nicht zuhörten, sondern ihn bis zum Letzten verfolgten. Das hat ihm Gott bereits eröffnet, als er ihn zu seinem Botschafter berief. Das Besondere an Jeremia war, dass er auf Gottes Offenbarungen antwortete, und zwar mit herzzerreißenden Gebeten für das Volk, aber auch mit Anbetung. In den ersten Kapiteln verbietet Gott Jeremia dann gleich drei Mal für das Volk zu bitten, denn das Gericht war fest beschlossen und er würde seine Gebete nicht erhören.
Das muss schrecklich für Jeremia gewesen sein. Er liebte sein Volk, er liebte sein Land, er liebte seinen Gott. So musste er Gottes schreckliche Botschaften seinem geliebten Volk weiterbringen, ohne für sie einstehen zu dürfen, und dazu noch verfolgt zu werden. Schließlich begann er für sich selbst zu bitten, denn die Verfolgung wurde immer stärker, und er sagte selbst, dass Gottes Grimm ihn erfüllte (Jeremia 15,17).
Vielleicht glitt Jeremia hier in eine Depression. In seinem großen inneren Schmerz über das Volk und sein eigenes Schicksal, wofür er in diesem Zustand keine Linderung sah, machte er Gott zum ersten Mal Vorwürfe:
HERR, du weißt es ja. Denk an mich und nimm dich meiner an und räche mich an meinen Verfolgern! Raffe mich nicht weg nach deiner Langmut! Erkenne, dass ich deinetwegen Schmach trage! Fanden sich Worte von dir, dann habe ich sie gegessen, und deine Worte waren mir zur Wonne und zur Freude meines Herzens; denn dein Name ist über mir ausgerufen, HERR, Gott der Heerscharen. Nie saß ich im Kreis der Scherzenden und war fröhlich. Wegen deiner Hand saß ich allein, weil du mich mit deinem Grimm erfüllt hast. Warum ist mein Schmerz dauernd da und meine Wunde unheilbar? Sie will nicht heilen. Ja, du bist für mich wie ein trügerischer Bach, wie Wasser, die nicht zuverlässig sind. (Jeremia 15,15-18)
Das ist ein harter Vorwurf, gelinde gesagt. Ob Jeremia da in seinem Schmerz realisierte, was er da sagte? Gleich zu Anfang das Buches, in der ersten Gerichtsbotschaft an Israel, benennt Gott DIE eine große Sünde des Volkes mit folgenden Worten:
Entsetze dich darüber, du Himmel, und schaudere, erstarre völlig vor Schreck!, spricht der HERR. Denn zweifach Böses hat mein Volk begangen: Mich, die Quelle lebendigen Wassers, haben sie verlassen, um sich Zisternen auszuhauen, rissige Zisternen, die das Wasser nicht halten. (Jeremia 2,12-13)
Gott ist DIE Quelle des lebendigen Wassers. Es gibt nur diese eine. Jeremia stellte Gott jedoch den löchrigen Zisternen gleich. Deswegen antwortete Gott ihm mit einer Mahnung, die aber voll Barmherzigkeit und Gnade ist:
Darum, so spricht der HERR: Wenn du umkehrst, will ich dich umkehren lassen, dass du vor mir stehst. (Jeremia 15,19)
Gott sagte (mit meinen Worten): „Du hast genauso wie das Volk gesündigt. So kannst du nicht weiter mein Botschafter sein, so können wir nicht mal mehr eine Beziehung haben. Aber ich bin ein gnädiger Gott. Ich weiß um deinen Schmerz, deswegen will ich dich nicht mitsamt des Volkes verdammen. Aber ich bin auch gerecht, und deswegen musst du erkennen, dass du den falschen Weg eingeschlagen und mir den Rücken zugekehrt hast. Kehre um! Verwirf diese bösen Gedanken! Wenn du das tun wirst, werde ich dir vergeben, werde dir meine Gnade schenken und wir werden wieder eine Beziehung zu einander haben.“
Das KOstbare
Und weiter sagt er:
Und wenn du das Kostbare vom Verachteten absonderst, sollst du wie mein Mund sein. (Jeremia 15,19)
Dieser Satz hat mich überwältigt. Vielleicht meinte Gott hier, dass Jeremia seine Worte besser wählen sollte. Aber ich denke, dass der Sinn dieser Worte viel tiefer geht.
Jeremia war verachtet, verachtet um der Gerichtsbotschaften willen, die Gott ihm auferlegt hatte. Er litt Verfolgung, Schmach, Schmerz, innere Zerrissenheit.
Aber da ist mehr, viel mehr. Im Verachtet sein für Gott gibt es verborgene Kostbarkeiten. Was in den Augen der Menschen verachtet ist, ist in Gottes Augen kostbar. Ob Jeremia dies erkannte? Der Schmerz hatte Jeremia dafür blind gemacht. Er sah nicht mehr, dass Gott ihm gnädig war, dass er mit dem wahren Gott eine Beziehung haben und sein Wort genießen durfte. Er hatte Wonne und Freude für das Herz, er saß an der Quelle des lebendigen Wassers!! Ist das etwa nicht kostbar? Was ist schon dagegen der „Kreis der Scherzenden“, der bald eh durch Gottes Gericht hinweggerafft werden würde? Sind diese Kostbarkeiten nicht wert, erforscht, betrachtet, verinnerlicht und wie ein Schatz behütet zu werden? Hängt nicht daran unser ganzes Glück? Und sind es dann die „verachteten Dinge“ nicht wert, sie wegen der Kostbarkeiten auf sich zu nehmen und gleichzeitig ebenso wertlos, dass wir sie ruhig als nichts, als Vergängliches abtun können?
Gott verheißt Jeremia aber noch andere Kostbarkeiten:
Sie sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen umkehren. Und ich werde dich für dieses Volk zu einer festen, ehernen Mauer machen, und sie werden gegen dich kämpfen, aber dich nicht überwältigen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten und dich zu befreien, spricht der HERR. Und ich werde dich aus der Hand der Bösen befreien und dich aus der Faust der Gewalttätigen erlösen. (Jeremia 15,19-21)
Das hat auch mich sehr angesprochen. Auch ich bin manchmal sooo müde von meinen Schmerzen, für die es keine Heilung gibt. Das kennt jeder, der chronisch krank ist oder chronische Schmerzen hat. Wie leicht neige ich dazu an Gott und seinem Wesen zu zweifeln … indem ich wieder einmal von den löchrigen Zisternen neue Kraft, Trost oder ähnliches erwarte und dort suche, anstatt sie bei Gott zu finden. Und das obwohl ich weiß, dass ich das alles eben nur bei Gott, der die Quelle des lebendigen Wassers ist, bekommen kann.
Und der Schmerz und all das, was eine chronische Erkrankung mit sich bringt, ist ein vernachlässigbarer und vergänglicher Faktor, über den ich die Kostbarkeiten als Kostbarkeiten erkennen und genießen darf. Wie einer der im Dreck nach Edelsteinen gräbt, sich nicht mit den vielen wertlosen Steinen zufrieden gibt oder sich durch sie entmutigen lässt, sondern mit echten Edelsteinen für seine Mühen belohnt wird. Und je mehr Mühe dieser für das Suchen im wertlosen Dreck aufgebracht hat, umso kostbarer werden sie in seinen Augen sein und umso mehr Freude wird er an ihnen haben!