Georg Müllers Krankheit
Von jedem preußischen Mann wurde erwartet, dass er ein Jahr in der Armee diente, vorausgesetzt er war gesund. Müller war im Alter von 20 Jahren für wehrtauglich erklärt worden, aber auf seine Bitte hin wurde er bis zum Ende seines Studiums vom Militärdienst zurückgestellt. Wer jedoch Missionar werden wollte, wurde oft vom Militärdienst befreit. Bei Müller sollte jedoch keine Ausnahme gemacht werden.
Die Lösung dieses Problems kam unerwartet: Müller wurde 1829 ernstlich krank. Ein berühmter Arzt verschrieb ihm Stärkungsmittel und Wein, und ein reicher und ziemlich weltlicher Freund – einer der amerikanischen Professoren – nahm Müller mit aufs Land in der Nähe von Berlin. „Solange ich Tag für Tag an der frischen Luft war, von einem Ort zum anderen ging, etwas Wein trank und Stärkungsmittel nahm, fühlte ich mich gut; aber sobald ich nach Halle zurückkehrte, traten auch die alten Symptome wieder auf.“ Vor allem schienen es ein starkes Schwindelgefühl, Magenschwäche und eine Erkältung zu sein, die Müller nicht überwinden konnte.
Müller und sein Freund gingen zusammen zur berühmten Michaelismesse in Leipzig und danach zur Oper, aber Müller hatte keine Freude daran. Nach dem ersten Akt trank er ein Glas Eiswasser; nach dem zweiten wurde er bewusstlos. Er erholte sich so weit, dass er zu seiner Herberge zurückkehren konnte, wo er eine ruhige Nacht verbrachte.
„Ich bin nicht glücklich über die Art, wie wir gelebt haben“, sagte Müller seinem Freund am nächsten Tag. „Ich auch nicht“, antwortete sein Freund, der ein Christ war, dessen Liebe zum Herrn Jesus aber kalt geworden war. „Als du gestern Abend in der Oper ohnmächtig wurdest, entsetzte mich der Gedanke, dass das ein schrecklicher Ort zum Sterben wäre!“
Müller wurde untersucht und für untauglich erklärt. Es wurde festgestellt, dass er eine Neigung zur Tuberkulose hatte. Einer der preußischen Generäle schrieb die notwendigen Papiere, während sein Adjutant abwesend war, selbst und gab Müller eine lebenslange völlige Befreiung von allen militärischen Verpflichtungen.
Müllers Gesundheit blieb schwach, bis er auf den Rat eines Medizinprofessors hin alle Medikamente aufgab. Danach begann sich sein Zustand zu bessern.
Anfang November 1837 verschlechterte sich Müllers Gesundheitszustand. Er wachte in der Nacht von Kopfschmerzen auf. Nach einiger Zeit schlief er wieder ein, nachdem er sich ein Taschentuch um seinen Kopf gebunden hatte, was die Schmerzen etwas zu erleichtern schien. Am 7. November war er nicht fähig zu arbeiten, und obwohl das Waisenhaus für die Jungen eröffnet werden sollte und es Probleme in der Bethesda-Gemeinde gab, entschloss er sich, Bristol für eine Zeit der Ruhe und Stille zu verlassen. Ein Brief ohne Angabe des Absenders kam an mit fünf Pfund für persönliche Bedürfnisse, und er nahm das als Zeichen, dass es für ihn richtig war, Urlaub zu machen.
Er mietete sich in einem Hotel in Bath ein, aber er fand es so „weltlich“, dass er gezwungen war, einen gläubigen Freund zu besuchen, den er in der Stadt kannte. Dieser Mann und seine Tanten überzeugten Müller, dass er bei ihnen bleiben sollte, was er ungefähr eine Woche tat. Die Symptome in seinem Kopf waren so alarmierend, dass er dachte, seinen Verstand zu verlieren. Die für die Unterhaltung der Waisenhäuser erforderliche Anstrengung war ihm zu groß geworden. Trotzdem kehrte er nach einer Woche nach Bristol zurück.
Nachdem er noch einmal fünf Pfund erhalten hatte, reiste er mit Mary und Lydia und ihrem Hausmädchen nach Weston-Super-Mare, wo sie eine Unterkunft nahmen. In Weston hatte Müller Angst, dass die Probleme in seinem Kopf einen beginnenden Wahnsinn anzeigten. Nach zehn Tagen kehrte die Familie Müller wieder nach Bristol zurück, wo Müller zu einem Arzt ging, der ihm versicherte, dass er keine Angst vor Wahnsinn haben müsste.
Er blieb noch krank. Er tröstete sich mit dem Wohlwollen von Freunden, die ihm Gaben sandten. Er schrieb seinem Vater und dachte, dass es der letzte Brief wäre, den er schrieb. Im Dezember diagnostizierten die Ärzte, dass das Problem von einer kranken Leber herrühre. Er fand, dass es ihm nach jeder Teilnahme an Versammlungen in Bethesda schlechter ging, und dass jede Art von geistiger Anstrengung ihn überfordere.
Müllers Arzt empfahl ihm jetzt eine weitere Luftveränderung. Müller wollte Bristol nicht verlassen. Aber als 15 Pfund „zweckgebunden für eine Luftveränderung“ von einer Dame ankamen, die ungefähr 80 Kilometer von Bristol entfernt wohnte und keine Ahnung von den Empfehlungen seines Arztes hatte, nahm er das als ein Zeichen für Gottes Willen. Er reiste mit Mary und Lydia zu einigen gläubigen Freunden in Trowbridge, wo er sich hinsetzte und Philips „Das Leben George Whitefields“ las. Er war erstaunt über das Gebetsleben dieses Mannes und über seine Gewohnheit, die Bibel auf den Knien zu lesen. Am Sonntag verbrachte er zwei Stunden auf seinen Knien um Psalm 63 zu lesen und „durchzubeten“. Er schrieb in sein Tagebuch:
„Gott hat meine Seele heute sehr gesegnet… Meine Seele ist jetzt dazu gebracht worden, dass ich mich über den Willen des Herrn freue, was meine Gesundheit betrifft. Ja, ich kann jetzt von Herzen sagen, dass ich diese Krankheit nicht geheilt haben möchte, bis Gott den Segen geschickt hat, den Er damit geben wollte.
Was hindert Gott, aus einem, der so scheußlich ist wie ich, einen anderen Whitefield zu machen? Ganz sicher könnte Gott mir so viel Gnade geben, wie Er ihm gab. O, mein Gott, ziehe mich näher und näher zu Dir selbst, dass ich Dir nachlaufe! – Ich habe einen Wunsch, wenn Gott mich für den Dienst am Wort wiederherstellen sollte (und ich glaube, dass Er dies bald tun wird, wenn ich es von dem Zustand aus beurteile, in den Er meine Seele jetzt gebracht hat, obwohl es mir gesundheitlich in den letzten Tagen schlechter ging als in einigen Wochen zuvor): Möge mein Predigen mehr als bisher das Ergebnis von ernstem Gebet und viel Nachdenken sein, und möge ich so mit Gott wandeln, dass „aus meinem Leibe Ströme des lebendigen Wassers fließen“.
Während der kommenden Monate, als seine Gesundheit sich wieder besserte, fand Müller, dass er mit mehr Freude predigte, mit mehr Ernsthaftigkeit und mehr Gebet als vor seiner Krankheitszeit. Er fühlte den „feierlichen Ernst der Arbeit“.
Es war kurz vor Müllers 33. Geburtstag. In den darauffolgenden Jahren war er zwar noch zwei- oder dreimal krank (wenn auch nicht so schwer), doch während seines langen Lebens war er niemals mehr so ernsthaft krank wie 1829 und 1837-38. Der Mann, den die Armee abgelehnt hatte, behauptete viele Jahre später, dass er sich in seinen siebziger Jahren gesunder fühle als in seinen Dreißigern.
Zitate aus dem Buch „Georg Müller – Vertraut mit Gott“ von Roger Steer, S. 23-24 und S. 69ff., CLV Verlag