Der silberne Becher

Josef ließ seinen silbernen Becher aus verschiedenen Gründen bei seinem Bruder verstecken. Was auf den ersten Blick wie ein Katz-und-Maus-Spiel aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als ein nötiges Übel…

Leiden bringt uns immer irgendwo hin. Leiden nötigt uns, nach irgendjemandem oder irgendwas zu greifen – was immer gerade vorhanden ist: Tabletten, Geld, geliebte Menschen, Jesus. Es ist schwer angesichts von Katastrophen still zu sitzen. Meistens kommen die Menschen zu einem Seelsorger, wenn sie sich in einer Krise befinden. Sie suchen dann wie wahnsinnig nach jemandem, an den sie sich hängen können.

Bestenfalls kann unser Schmerz, anstatt uns zu selbstzerstörerischen Taten oder zur Verletzung anderer zu bringen, nahe an Gottes Seite ziehen. Katie-Mae (Tammys Katze), ein einfaches Geschöpf ohne den entfremdeten Stolz der Menschheit, wurde instinktiv am Ende ihres Lebens an die Seite der Person gezogen, die ihr Trost und Fürsorge in ihrem Leben gegeben hatte. Aber nur weil Katie-Mae Tammy kannte und ihr vertraute, wandte sie sich an sie in der Stunde der Not.

Wir sehen dieses Konzept illustriert in dem Bericht über einen Mann, dem Sorge so vertraut war wie sein eigener Name, Josef.

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Josefs Geschichte ist vielen vertraut, aber sie berührte uns aufs Neue nach dem Lesen eines Kapitels in Edward Millers Buch „Letters to the Thirsty“ (Briefe an die Durstigen). Darin wird eine Geschichte erzählt von einem außergewöhnlichen Becher und was durch seine Entdeckung mit den Brüdern geschah. (…)

Als die Brüder zum zweiten Getreidekauf vor Josef erschienen, geschah etwas Seltsames. Josef eilte hinaus, „denn sein Innerstes war aufgewühlt wegen seines Bruders; und er suchte einen Ort auf, wo er weinen konnte“ (1. Mose 43,30). Josef hatte seinen Brüdern vergeben, dass sie ihn nach Ägypten verkauft hatten. Er sehnte sich schmerzlich danach, ihnen nahe zu sein – ihnen zu offenbaren, wer er wirklich war. Er liebte sie aus tiefstem Herzen und hatte unter dem Verlust seiner Familie während all der Jahre im fremden Land sehr gelitten. Die Notwendigkeit, ihre Getreidesäcke füllen zu lassen, brachte sie zurück, aber Josef hatte viel mehr mit ihnen im Sinn als nur Hilfe durch eine „Suppenküche“ – mehr als seine Brüder sich in ihren kühnsten Träumen hätten nicht vorstellen können.

Und dann kam der silberne Becher. (…) Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätte Josef mit seinen Brüdern eine Art Katz-und-Maus-Spiel gespielt. Mit der Anklage, seine Brüder hätten den silbernen Becher gestohlen, verursachte er Kummer und Furcht. Warum sollte Josef seinen Brüdern gegenüber so grausam sein? Warum sollte er sie durch all das Leiden gehen lassen, das durch die List mit dem königlichen Becher verursacht wurde?

Das Geschenk, das wir wirklich brauchen

Der Schmerz, der durch den königlichen Becher erzeugt wurde, ermöglichte Josefs Brüdern, wieder mit ihm vertraut zu werden. Das Elend brachte seine Brüder zurück nach Ägypten, an seine Seite. Das Leiden unterzog ihren Charakter einer Probe und zeigte auf, was sie tun würden mit dem zweiten Bruder, der ihnen vorgezogen wurde. 

Benjamin sah dem Tod ins Angesicht, genauso wie es Josef so viele Jahre vorher getan hatte. Ohne die Tortur mit dem silbernen Becher hätten die Brüder Josef nie von der Seite kennengelernt, die Josef ihnen zeigen wollte. Edward Miller erklärt:

„Lass mich noch einmal anführen, was dazu führte, dass der wunderbare Becher den Brüdern untergejubelt wurde. Als Josefs Brüder hinunter nach Ägypten kamen, war er ihnen ein Fremder. Er liebte sie und sehnte sich nach dem Tag, an dem er sich ihnen offenbaren konnte. Aber sie waren dafür noch nicht bereit. Mehrmals musste sich Josef aus ihrer Gegenwart stehlen, um heimlich zu weinen, weil er ihnen nicht sagen konnte, wer er war. Josef war betrübt darüber, dass seine Brüder nur deshalb vor ihm standen, weil er der einzige war, der ihre leeren Säcke füllen konnte.
Und wie viel mehr ist Gott darüber betrübt, wenn sich unsere Gebete belaufen auf: Nimm meine Gabe, fülle meinen Sack und lass mich als Fremder wieder gehen!
Josef wollte mehr als nur seine Familie versorgen. Er wollte ihnen auch nicht mehr fremd sein. Wenn nicht der Silberbecher in den Sack geschmuggelt worden wäre, wären sie aus Josefs Gegenwart verschwunden und hätten ihn nicht kennengelernt. Aber weil es so geschah, mussten sie zu ihm zurückkehren und er konnte sich ihnen offenbaren. Durch den Silberbecher lernten sie ihren Versorger in einer persönlichen Weise kennen (…). Gott liebt uns zu sehr, als dass er uns erlauben würde, ihm fremd zu bleiben.“

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Die Parallelen zwischen Josef und unserem Herrn sind auffallend. Josef war überglücklich seine Brüder mit Nahrung versorgen zu können. Gottes Vorratshäuser drohen zu platzen und er möchte all unserer Not begegnen.
Josefs Brüder empfanden ihn schlimmstenfalls als einen strengen, autoritären Machthaber und bestenfalls als einen taktisch geschickten Getreideverteiler. Seine Brüder hatten keine Ahnung davon, dass er sie bestens kannte und mit aller Kraft liebte. In ähnlicher Weise haben viele Christen keinen blassen Schimmer von Gottes väterlichen Liebe. Wenn Schmerz über sie hereinbricht, denken viele, Gott sei streng und teilnahmslos. Andere wenden sich nur an ihn, damit er ihre körperlichen Bedürfnisse stillen möge und geben sich mit einer oberflächlichen Beziehung zu ihm als Getreideverteiler zufrieden. 

Josef sehnte sich schmerzlich danach sich seinen Brüdern zu offenbaren und sich an einer tiefen Beziehung zu seiner Familie zu erfreuen. Gott wünscht sich mit unermesslicher Leidenschaft seinen Kindern zu zeigen, wer er wirklich ist. Er sehnt sich nach ihrer Aufmerksamkeit, Bewunderung und Nähe (Johannes 4,23).

Josef verursachte mit Hilfe des silbernen Bechers bewusst und aus liebender Absicht großen inneren Konflikt und Aufruhr, um seine Brüder zurück in seine Gegenwart zu treiben. Er wollte echte Traurigkeit und Buße in ihrem Leben sehen, damit er sich zu einer echten Beziehung zu ihnen bewegen konnte, die Tiefgang hatte. Genauso verwendet Gott absichtlich silberne Becher wie zum Beispiel inneren Aufruhr, finanzielle Probleme, Konflikte mit den Menschen um uns herum, Krankheit und persönliche Verluste, damit wir uns zu ihm hin kuscheln.

Manchmal ist Leid das Ergebnis der Sünde anderer Menschen oder einfach eine Folge von Verfall und Schmerz in der Welt. Und doch gebraucht Gott jedes einzelne Erlebnis, damit wir daran reifen. Josef hatte die Hungersnot in dem Land nicht verursacht. Aber durch die Episode mit dem silbernen Becher verwendete er die Hungersnot, um seine Brüder wieder in Gemeinschaft mit sich zu bringen. So verwendet Gott auch schmerzliche Ereignisse, damit wir ihn mehr brauchen und besser kennen lernen.

Gott hört all unsere Qual, die wir vor ihm ausschütten, aber er sehnt sich danach uns mehr zu sein als nur ein himmlisches Beruhigungsmittel. Er möchte, dass Menschen in ihrem Leid zu ihm kommen. Denn er selbst ist das Geschenk, das wir brauchen.

» John White

Denn er selbst ist das Geschenk, das wir brauchen. Diese Worte werfen Licht auf die Wahrheit – den Beweis dafür, dass Gott nicht grausam ist und mit den Herzen seiner hilflosen Kinder spielt. Als die Hungersnot über das Land kam, wusste Josef, dass seine Familie schmerzlich betroffen sein würde. Aber vielleicht dachte er sich auch, dass der uralte Schmerz noch immer an seiner Familie nagte – der Schmerz seines Verschwindens. Machte er sich Gedanken über den Ekel und die Schuld, die in seinen Brüdern in alle den Jahren brodelte, wenn sie daran dachten, was sie getan hatten? Dachte er über die niemals heilende Wunde nach, die sein Vater trug, weil er seinen geliebten Sohn nicht hatte beschützen können? Um die Heilung solcher Seelenqual zu bewirken, waren Stunden der Panik und Verzweiflung kein großer Preis mehr. (…)

Ohne Kämpfe gibt es keine Stärke. Und die ganze Zeit über sehnt sich unser mitleidiger Vater im Himmel mit offenen Armen danach, dass Menschen in ihrem Schmerz im Gebet zu ihm rennen. Er wünscht sich, dass wir die unangenehmen Becher „für lauter Freude achten“ (Jakobus 1,2) in dem Wissen, dass jeder einzelne sorgfältig von Gott dazu gemacht wurde, um uns an seine Seite zu winken, damit wir Trost finden.

Schmerz und Leid sind unvermeidlich. Und doch haben Schwierigkeiten, die durch Gottes Hand ausgesiebt wurden, eine besondere Aufgabe. Manche Schwierigkeiten sollen uns herausrufen und uns dazu bringen, den anzurufen, der uns inmitten der Schwierigkeiten helfen kann.

» Roger D. Peugh

Auszüge aus dem Buch „Gott verändert Menschen durch Gebet“, Roger D. Peugh und Tammy Schultz, Seite 63ff. , Lichtzeichen-Verlag
Die ganze Geschichte Josefs findet sich in 1. Mose 37ff.