Kannst Du vergeben?

Das Kreuz ist das lodernde Feuer, an dem sich die Flamme unserer Liebe entzündet,
doch wir müssen ihm so nahe kommen, dass seine Funken auf uns überspringen können.   

John Stott

Kranke Menschen sind in der Regel dünnhäutig, was mit der Zunahme ihrer Beschwerden korreliert. Das mag an dem Zusammenspiel von Körper und Seele liegen. Deswegen stehen heute besonders chronisch Kranke immer wieder vor der ärztlichen Einschätzung, ob z.B. die Depression die Folge einer Krankheit oder eher die Krankheit die Folge einer Depression ist…

R.C. Sproul erzählt:

„Ich unterhielt mich einmal mit einer krebskranken Frau, die gerade eine Chemotherapie durchmachte. Sie hatte sehr unter Übelkeit und Erbrechen zu leiden. Ich fragte sie, wie sie geistlich die Sache durchstehen könne. Ihre Antwort war äußerst objektiv: ›Es ist schwer Christ zu sein mit dem Kopf im Toilettenbecken.‹ Die Frau kannte die enge Verbindung zwischen Körper und Seele. Es ist ungeheuer schwer, geistlich gesonnen zu sein, wenn der Körper von Schmerzen heimgesucht wird, für die es keine Linderung gibt.“ (a)

Wenn Körper und Seele in Mitleidenschaft gezogen werden, sind wir schnell verletzbar. Die ganze Energie wird für das Überleben aufgebraucht, da bleibt nicht mehr viel für den Nächsten übrig. In Foren begegne ich vielen Verletzungen, von denen die Betroffenen berichten. Ich brauche da aber gar nicht weit zu suchen… Viele haben jahrelang nach einer Diagnose und Hilfe gesucht, wurden dabei allein gelassen und abgestempelt. Das Umfeld kann oft kein Verständnis aufbringen und zeigt kaum Interesse. Viele Familien leiden darunter, engste Beziehungen werden hart auf die Probe gestellt und oberflächliche Beziehungen lösen sich ganz schnell in Nichts auf. Menschen sind von Natur aus leidensscheu, auch was das Leiden seines Nächsten betrifft. Nur wer wirklich liebt, hat die nötige Kraft Leiden zu ertragen sowie mitzutragen.

Wir leben in einer Welt voller Sünde, und Leid gehört dementsprechend dazu. Wenn wir selbst leiden, fordern wir viel von unseren Nächsten und haben oft selbst keinen Blick für dessen Nöte. Wir leiden alle, mehr oder weniger. Und so vielfältig die Sünde ist, so vielfältig sind auch ihre Folgen, unter denen wir leiden. Da ist keiner ausgenommen. Wir verursachen Leid und müssen Leid ertragen.

Jeder geht mit Leid anders um. Der eine zieht sich zurück, der andere verteidigt sich mit Angriff, ein anderer versucht es mit Humor zu nehmen, der andere sucht sich ein Ventil für seine Aggression, ein anderer ertränkt seine Verzweiflung, der andere badet in Selbstmitleid usw… Somit entfernen wir uns immer mehr voneinander. Wir kapseln uns ab, schauen nur noch in uns hinein und werden immer selbstzentrierter und selbstgerechter. 

Als Jesus unglaubliche Folter litt, dachte er nicht an sich selbst, obwohl er zu Unrecht litt, bespuckt und geschmäht wurde. Er kümmerte sich um seine Mutter, um die Frauen, die ihm nachweinten, um den Schächer am Kreuz und schließlich betete er sogar für seine Peiniger: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dabei litt er gerade für ihre Sünden!

Welch unglaublich tiefe und starke Liebe!

Kannst du darüber staunen? Siehst du dein Leiden als Leiden mit Christus? Kannst du dann auch mit Christus für deine Feinde beten? Kannst du für deine Freunde, deine Familie, deine Ärzte beten, die dir doch weit weniger angetan haben, als die wütende Menge Christus? 

Hiob wurde von Gott aufgefordert für seine Freunde zu beten und für sie ein Opfer darzubringen. Er machte ihre Vergebung von dem liebevollen Priesterdienst Hiobs abhängig. Diese Freunde hatten ihn gedemütigt und geschmäht, obwohl sie meinten ihm dadurch helfen zu können. Aber Hiob vergab ihnen und betete für sie, und sie begegneten dadurch Gott.

Ich bete mit Paulus folgendes Gebet:

„Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus,… dass er euch nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit gebe, durch seinen Geist mit Kraft gestärkt zu werden an dem inneren Menschen, dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, damit ihr, in Liebe gewurzelt und gegründet, dazu fähig seid, mit allen Heiligen zu begreifen, was die Breite, die Länge, die Tiefe und die Höhe sei, und die Liebe des Christus zu erkennen, die doch alle Erkenntnis übersteigt, damit ihr erfüllt werdet bis zur ganzen Fülle Gottes.“   (Epheser 3,14-19)

C.J. Mahaney schreibt folgendes:

„Wegen der Sünde sind Konflikte in Beziehungen unvermeidlich. Sie werden gegen andere sündigen. Andere werden gegen Sie sündigen. Sie werden mit anderen nachsichtig sein müssen. Sie werden anderen vergeben müssen.
Ihre Beziehungen zu anderen  müssen auf Ihrer Beziehung zu Gott durch das Kreuz gegründet sein. In der Bibel wird uns aufgetragen: ›Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus.‹ (Epheser 4,32)
Wenn ich anderen gegenüber verbittert oder unversöhnlich werde, unterstelle ich, dass ihre Sünden gegen mich schwerer wiegen als meine Sünden gegen Gott. Das Kreuz verändert meine Perspektive. Durch das Kreuz erkenne ich, dass keine Sünde, die gegen mich begangen wird, je so schwerwiegend sein kann wie die unzähligen Sünden, die ich gegen Gott begangen habe. Wenn wir verstehen, wie viel Gott uns vergeben hat, ist es nicht schwer, anderen zu vergeben.
Gott ist geduldig mit mir, so dass ich geduldig mit anderen sein kann. Gott hat mir vergeben, so dass ich anderen vergeben kann. Gottes Gnade verändert mich, so dass ich darauf vertrauen kann, dass Er auch andere verändern kann. … Ich weiß nicht, was morgen kommt. Aber ich weiß: Durch das Kreuz wird es mir viel besser gehen, als ich es verdiene. Darum möchte ich, solange ich lebe, nur noch tiefer in das wunderbare Geheimnis von Gottes Liebe zu mir eintauchen.“ (b) 

Dem möchte ich nichts weiter hinzufügen.

„Elend sollte Anziehungspunkt für Mitleid sein und kein Fußschemel für Stolz, auf dem man herumtrampelt.“

Richard Sibbes

Richard Sibbes schreibt über den Zusammenhang von Körper und Seele:

„Manchmal kann unsere Trübsal aufgrund äußerlicher Beschwerden schwerer auf unserer Seele lasten als der Kummer über das Missfallen Gottes. Die Trübsal liegt in solchen Fällen nämlich auf dem ganzen – dem inneren und dem äußeren – Menschen. Und nichts ist da, was diesem Abhilfe schaffen könnte, außer einem Funken Glauben. Dieser Glaube ist, aufgrund des heftigen Gefühls der Betrübnisse, zeitweilig außer Kraft gesetzt. Dies spürt man am ehesten in plötzlichen Notlagen, die wie ein Sturzbach oder eine Sintflut über die Seele kommen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn körperliche Krankheit – aufgrund der Verbundenheit zwischen der Seele und dem Körper – auf die Seele derart einwirkt, dass sie nicht nur geistliche, sondern häufig auch natürliche Handlungen beeinträchtigt. …

Darum sollten wir gegenüber Klagen von Gläubigen Nachsicht üben, die ihnen in solchen Fällen abgenötigt wurden. Hiob wurde von Gott als geduldiger Mensch angesehen, trotz seiner so leidenschaftlichen Klagen. Momentan überwältigter Glaube wird wieder an Boden gewinnen….“  (c) 

 

„Wir fühlen uns nicht immer barmherzig gegenüber den Menschen,
aber wir müssen ihnen Barmherzigkeit erweisen – solange, bis wir uns barmherzig fühlen.“

„Meine Folter rettete meine Folterer vor der ewigen Folter.“

Richard Wurmbrand

Matthew Henry schreibt:

„Wir diskreditieren unsere Tröstungen in Gott, wenn uns an den Kreuzen dieser Welt zu viel liegt. Lasst uns viel mehr bezeugen, dass wir uns der Güte Gottes sicher sind und dieses Leiden deshalb gut für uns ist. Lass uns das als ausreichend dafür betrachten, alle Unfreundlichkeiten der Menschen aufzuwiegen. Solche, die sagen können, dass sie Gottes Gunst genießen, dürfen sich nicht über das Stirnrunzeln der Welt ärgern. Das Licht des Angesichtes Gottes kann durch die dicksten Wolken der Mühsale dieser gegenwärtigen Zeit scheinen.“ (d)

(a) R.C. Sproul, „Die Heiligkeit Gottes“, S. 88, Hänssler Verlag
(b) C. J. Mahaney, „Leben mit dem Kreuz im Zentrum“, S. 146, arche-medien Hamburg
(c) Richard Sibbes, „Geborgen in ihm“, S. 38, 3L Verlag
(d) Matthew Henry, „Leben voller Freude“, S. 133, 3L Verlag