Was die gichtkranke Lalla Hahn anderen geben konnte
Lalla Hahn war eine Pastorenfrau und 10-fache Mutter, von Geburt an behindert und ihr Leben lang krank. Sie diente ihren Mitmenschen, so wie ihre Umstände es erlaubten.
Eine Kurzbiografie von Lalla Hahn
(1851-1904)
Heiratswünsche hatte die 19-jährige Rosalie Palung, die man nur Lalla nannte, längst begraben. Wenn andere fröhlich spielten, war sie zum Zuschauen verurteilt. Tobten andere wild herum, musste sie wegen eines von Geburt an verkürzten Fußes still sitzen. Man hätte dieses Mädchen mit ihren starkem Hinken bemitleiden können. Aber gerade diese schwere Behinderung hat sie früh reifen lassen im Entsagen und im Selbstverleugnen.
Da fragte sie der 21-jährige Traugott Hahn, Kandidat der Theologie (in Berlin), der eben sein Examen bestanden hatte, ob sie seine Frau werden wolle und bereit sei, mit ihm in die Mission zu gehen. Lalla Paling sagte ganz einfach „Ja“. Und wie ihr Mann später erzählte, „ohne alle Sentimentalität, ohne irgendetwas Gefühliges, mit derselben Klarheit und Wahrheit, die ihr Leben lang ihr schönster Schmuck war“. Dann ließ sie sich umarmen und küssen. So verlobten sie sich in den Adventstagen 1869 in der Nähe Dorpats im Baltikum, wo ihr Vater landwirtschaftlicher Verwalter auf einem großen Gut war.
Die Wege in die Mission zerschlugen sich. Lalla war dazu bereit, aber ihre Eltern wollten wegen ihrer Gesundheit ihrer Tochter der Heirat nur zustimmen, wenn sie ihm Land bleiben würde. Auch die Rheinische Mission hatte Bedenken, weil Hahn lutherischen und nicht reformierten Bekenntnisses war. Nun musste der in Südwestafrika geborene Missionarssohn neu planen und nach einer Pfarrstelle in Estland suchen. Diese erste eigene Gemeinde fand er auf der Insel Ösel in der Ostsee, die im Winter kaum zu erreichen war. Boote wurden oft vom Treibeis beschädigt. Wenn das Eis über den großen und kleinen Sund genügend dick war, konnte man mit Pferdeschlitten gefahrlos darüber fahren. Das dünne Eis aber bedeutete eine lebensgefährliche Reise.
Dorthin heirateten sie am Neujahrstag 1872. Er war 23, sie 21 Jahre alt. Traugott Hahn hat später die Gemeinschaft mit seiner Frau immer als den größten Reichtum seines Lebens bezeichnet, trotz ihrer schweren körperlichen Gebrechen.
Die ersten 3 Ehejahre auf Ösel mit großem Verlust
Wegen der völligen Abgeschiedenheit ihres Pfarrhauses im Winter erwartete Lalla Hahn die Geburt ihres ersten Kindes in Dorpat. Ihr Mann wollte sofort nach den Weihnachtsdiensten in der Gemeinde zu ihr reisen. Es gab ja damals noch kein Telefon. Über den Kleinen Sud kam Traugott Hahn noch. Der treue Postjunge brachte ihn mit dem Handschlitten über das dünne Eis. Der Große Sund war aber durch milde Winde unpassierbar. Treibende Eisschollen würden jedes Boot zerquetschen. Neun lange Tage saß Traugott Hahn fest und wartete. Dann endlich kam ein Zollboot mit dem Telegram: „Lalla am Weihnachtsabend von einem Sohn entbunden. Kind gleich gestorben. Lalla gut nach Möglichkeit“. Immer wieder las Hahn die Worte. Alle Hoffnungen waren jäh vernichtet.
Hahn war in Sorge um seine Frau. „Am Ende ist auch sie noch gestorben!“, dachte er immer nur. Er bot den Schiffen sogar 25 Rubel, wenn sie ihn sofort über den Großen Sund brächten. Die schüttelten nur den Kopf, weil es unmöglich war, mit einem Boot in das wogende Treibeis hinein zu fahren. Hahn konnte in seiner Verzweiflung nur weinen. „Da kamen immer wieder die dunklen Gedanken“, erzählte er später, „so finster, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte“. Erst nach Tagen machten mutige Schiffe es möglich, dass Hahn durch Nebel und Eis nach Dorpat weiterreisen und seine Frau wieder heimholen konnte.
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Im Vorfrühling 1874 zog eine schwere Pockenepidemie über die Ostseeinsel Ösel hinweg. Bei den Krankenbesuchen hatte Hahn keine Angst, auch seine Frau nicht. Nur den kleinen Traugott, den sie inzwischen bekommen hatten und der so wunderbar gedieh, wollten sie schützen.
Doch plötzlich zeigten sich auch an seinem Körper jene unheimlichen Flecken. In der Nacht verschlimmerte sich rasch sein Zustand. Es zerriss den Eltern das Herz, dass sie nicht helfen konnten. Das kleine Gesichtlein schaute sie voll Angst. Dann wandten sich seine Augen ab und blickten in die Ferne. Das Gesicht wurde bleich, die Lippen fast weiß. Die Eltern befahlen das sterbende Kind in die Hände des Guten Hirten und baten ihn, es ohne Qual heimzuholen.
„Und nun kam das Leid mit seiner ganzen Gewalt“, erzählte Hahn. „Nicht mit Erregung und Schluchzen. Still nur strömten die Tränen. Mit Küssen drückten wir die kleinen gebrochenen Äuglein zu. Es war das erste große Todesweh, das mein Leben durchzog, das erste Zerreißen des Lebens. Noch nach Tagen überkam uns ein Grauen, so dass wir zitterten. Nicht vor der Leiche unseres kleinen, süßen Lieblings graute uns. Die Schrecken über die Macht des Todes kamen über uns, der das Leben höhnend zerreißt und zertritt. Dieses Mal hatte er unser eigenes Leben gepackt. Zum ersten Mal haben wir den Tod erlebt an uns selbst.“
Da wurde an die Haustür geklopft. Eine Baronin, die selbst ein kleines Kind hatte, stand draußen: „Wie geht es Ihrem Liebling?“ Sie war gekommen, um fröhlich zu sein mit den Fröhlichen. Nun fand sie Weinende und weinte mit ganzem Herzen mit. Aber gleichzeitig sagte sie ganz kurze Worte des Trostes aus einem lebendigen Christenglauben. „Als sie uns verließ, was das Grauen aus unserem Herzen gewichen“, berichtet Hahn. „Wir hatten es erlebt, dass Gott auch heute noch seine Engel sendet zu seinen Kindern, um sie zu stärken, wenn ihnen die Last des Lebens zu schwer werden will.“
Neue Pfarrstelle in Rauge
Lalla Hahn ertrug aber das Klima auf der einsamen Ostseeinsel nicht. Sie litt ständig unter quälender Atemnot.
So nahmen die Eheleute schon nach drei Jahren einen Ruf nach Rauge, einer landwirtschaftlich herrlich gelegenen Gemeinde im Süden Livlands, an Weit verstreut in einem Umkreis von 20 Kilometern wohnten insgesamt 14 000 Gemeindeglieder.
Anspruchslos und immer im Dienst für andere verzehrte sich Lalla Hahn auf dieser Pfarrstelle in Rauge. Sie versorgte neben dem großen Pfarrhof mit Garten auch ihre wachsende Familie mit sechs Kindern bis hin zum Schulunterricht. Auch für Pferde und Stall war sie zuständig neben ihrem Amt als Pastorin. Dieses galt damals nicht nur als Ehrentitel, sondern war ein frei zu handhabendes seelsorgerisches Amt einer Pastorenfrau. Lalla Hahn wurde wurde diesem Titel gerecht und kümmerte sich mit ganzem Einsatz um die Gemeinde. Schon nach sechs Ehejahren aber waren neue Leiden über Lalla Hahn gekommen. Sie war damals 27 Jahre alt. Nach heftigen Schmerzen diagnostizierte man schwere Nierenkoliken.
Wenig später, als sie eines ihrer Kinder in der Wanne badete, stürzte die Hochschwangere so unglücklich, dass ihr Bein zweimal gebrochen war. Es dauerte Tage, bis man den benötigten Gipsverband aus der Stadt Dorpat besorgt hatte. Unter großen Schmerzen musste sie wochenlang liegen. Von da ab sollte ihr Kranksein 27 Jahre lang nicht mehr abreißen.
Neue Pfarrstelle in Reval und das Kranksein
1886 riet der Arzt zum Wechsel in eine städtische Pfarrstelle. Lalla Hahn konnte die schwere Last der Landwirtschaft nicht mehr tragen. Immer wieder traten Herzanfälle auf.
So siedelte die Familie in die malerisch am Rand der Ostsee gelegene estnische Stadt Reval über. Dort an der alten St.-Olai-Kirche, deren Geschichte bis zur Reformation zurückreicht, zog 1886 Traugott Hahn als neuer Pastor für die deutsche und estnische Gemeinde auf.
Auch in Revaö bildete Lalla Hahn den Mittelpunkt der Familie. zu den sechs Kindern kamen jetzt noch vier weitere dazu. Man kann sich nicht vorstellen, wie sie das überhaupt körperlich leisten konnte. Gott gab ihr die Kraft, die sie brauchte. So bestimmte die Mutter Geist und Leben im Haus, obwohl sie sehr schwer durch ihre Krankheit geschwächt und behindert war.
Zunächst war es eine schwere Herzkrankheit, dann die immer stärker sich auswirkende Gicht, die sie dann an Krücken gehen ließ und schließlich ganz in den Rollstuhl zwang.
In diesen Jahren verlor sie auch ganz plötzlich zwei Kinder: Sohn Wilhelm, hoffnungsvoller Student der Theologie, der im Alter von 18 Jahren Typhus bekam, und das eineinhalbjährige Töchterlein Maria, das an Diphterie starb.
Im Winter 1894 kam ein qualvoller Husten nach einem Lungenkatarrh hinzu. Man fürchtete, Lalla Hahn würde daran ersticken. Die Ärzte wagten schließlich in höchster Not mitten in der Nacht einen Kehlkopfschnitt an der Bewusstlosen.
Als der Operationsschnitt gemacht war, standen die Ärzte gespannt da, ob überhaupt noch ein Atemzug folgen würde. Da – ein kurzer Atemzug, dem ein heftiger Hustenanfall folgte. Schreckliche Mengen von zersetztem Schleim wurden aus der Wunde geschleudert, direkt in das Gesicht des über sie gebeugten Chirurgen. Der konnte nur noch „Gott sei Dank!“ sagen. Sieben weitere Jahre wurden der „Dulderin von Gottes Gnaden“ noch gegeben, auch wenn der schlimme Husten und das Eitern anhielten. Die Ärzte rätselten lange an der Ursache, bis sie auch hier das Gichtleiden als Quelle der Krankheit vermuteten. Von da an war Lalla Hahn immer an den Rollstuhl gefesselt.
Die Kraft von Christus in schwachen irdenen Gefäßen!
Noch in den Jahren der schweren Krankheit wollte sie immer anderen dienen und für andere sorgen. So hat sie für unzählige Menschen gebetet. Ganz unmittelbar und direkt lebte sie ihren Glauben an ihren Heiland, dem sie alles sagen konnte, was sie an Freude und Leid bewegte.
Dieser vertrauensvolle Glaube, in dem sie andauernd mit Gott im Gebet sprach, half ihr auch über die schweren Nächte hinweg. Da konnte sie oft nicht einen Finger mehr bewegen oder den Körper auch nur einen Zentimeter in eine andere Lage bringen. Wie man sie uns Bett legte, so lag sie bis zum Morgen – betend. Das waren die Stunden, in denen sie die Kraft fand und der innere Mensch erneuert wurde in der Lebensgemeinschaft mit Gott. Später sagte ihr Mann Traugott Hahn, er hätte in 33 Jahren von seiner Frau kein Wort der Klage gehört über ihr Leiden, wohl hin und wieder stille Tränen fließen sehen, wenn es sehr schwer war. Sie entdeckte das Leiden als „die allerhöchste Lebensaufgabe der Kinder Gottes und wurde darin nicht müde. Unverdient wurde sie ihrem leidenden Heiland nachgebildet und in die Ähnlichkeit mit ihm hinein verklärt.“
Wohl keiner von all ihren Bekannten hatte wohl eine wirkliche Vorstellung davon, was sie litt, wie jedes Glied ihres Leibes von Schmerzen durchzogen war. Wenn sie aus dem Bett gehoben wurde und dann ganz zusammengekrümmt war vor Schmerzen, konnte man es kaum mit ansehen. Sie aber musste es tragen, schrieb ihr Mann später. „Sie hat Geduld gelernt, das Drunterbleiben unter Gottes Hand, Kreuz und Last.“
Er hörte es oft an unzähligen Krankenbetten: „Ach Pastor, wir müssen an Ihre liebe Frau denken, dann können wir nicht klagen.“
Ein befreundeter Gutsbesitzer sagte einmal nach einem halbstündigen Besuch bei der Schwerkranken tief ergriffen: „Herr Pastor, das ist mehr als hundert Predigten von Ihnen.“
Dass Leiden eine Predigt sein kann, das wurde bei Lalla Hahn deutlich. Wenn sie Besucher empfing, so suchten sie bei ihr Trost und Hilfe. Deshalb hielt ihr Mann beim Abschied fest: „Das Leiden kann auf andere ziehend, aufmunternd, aufrichtend und mahnend wirken, sich von der Kraft Christi tragen zu lassen, die in Schwachen so wunderbar mächtig sein kann. Die Kraft von Christus in schwachen irdenen Gefäßen!“
Am Tag vor dem Heilig Abend 1904 ging sie heim. Ihr Mann schrieb: „Wir alle konnten nur aus tiefstem Herzen danken für alles, was Gott uns durch sie gegeben hatte. Wir baten ihn, er möge uns allen helfen, diesen Segen zu bewahren. Und dann stellten wir den Weihnachtsbaum an ihr Bett und sangen all die herrlichen Weihnachtslieder, an denen sie sich so gefreut hatte.“
Und er hat zu mir gesagt:
Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft wird in der Schwachheit vollkommen!
Darum will ich mich am liebsten vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus bei mir wohne.
Darum habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um des Christus willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
» 2. Korinther 12,9-10
Ein Ausschnitt aus dem Buch „Mit Freuden ernten – Erfahrungen in Lebenskrisen“ von Beate & Winrich Scheffbruch, erschienen im Hänssler Verlag, S. 116 -121
Vertont hier zu hören: https://glaubensgerechtigkeit.de/mit-freuden-ernten/
Zum Thema weiterlesen: Die Proklamation des Kreuzes