Wenn Gott schweigt

Hiob verzweifelte: „O dass ich wüsste, wo ich ihn fände, dass ich bis zu seinem Thron gelangen könnte!“ (Hiob 23,3)

Manchmal gibt es Zeiten, in denen der Himmel aus Beton zu sein scheint. Alles Gebet reicht nur bis zur Decke und verhallt ungehört. Gott schweigt eisern. Hört er das Gebet oder ist er zu weit weg? Zürnt er und hat sich verborgen? Warum hält er sein Versprechen nicht, immer da zu sein und Gebete zu erhören?

Wahrscheinlich macht jedes Kind Gottes mindestens einmal so eine Erfahrung. Mal sind es nur kurze Zeiten, manchmal aber auch lange Phasen, in denen man zwischen Zweifel und Verzweiflung schwebt, zwischen dem Gefühl des Verlassenseins und dem hilfesuchenden Glauben. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein: ein noch nicht geretteter Freund, fehlende Zeit für Gott, ein krankes Kind, nicht endend wollender Stress, nicht zu lösende Konflikte, Depressionen, Kraftlosigkeit usw.

Auch ich habe so eine lange Phase durchgemacht, die mehrere Jahre andauerte. Begonnen hat sie mit der Erhörung eines meiner ernstgemeintesten Gebete, welche ich je an Gott, meinen Herrn und Erlöser, gerichtet habe. Das wurde mir aber erst bewusst, nachdem Gott mich endlich wieder aufgerichtet hatte. Ich habe dieses Gebet aufgeschrieben, kurz bevor mein Mann mir seinen Heiratsantrag machte und es eigentlich die bis dahin glücklichste Zeit meines Lebens werden sollte. Hier möchte ich einen kleinen Auszug davon wiedergeben:

Du hast mich, ehe der Welt Grund gelegt war, geplant, geliebt und mit einem bestimmten Ziel erschaffen. (…) Du hast mir alles gegeben und du hast das heilige Recht mir wieder alles zu nehmen. Ich weiß nicht, was das wirklich für mich bedeutet. Ich kann nicht wissen, wieviel mich das wirklich kostet (…). In deiner Hand ist alles gut aufgehoben und erhält erst da seinen Sinn, und die Möglichkeit Ewigkeitswert zu erhalten. Nun möchte ich dich bitten:

Gestalte mich in dein Ebenbild. Nimm weg, was weg muss und tue hinzu, was nötig ist. Sei gnädig zu mir und lass mich ein Gefäß zu deiner Ehre sein, damit ich dir dienen und dich lieben kann. Höre mein schwaches Gebet! Du hast das Niedrige in dieser Welt erwählt- so werde du nun groß in mir! (…)
Herr – allmächtiger Vater – vollende dein Werk in mir.

» 26.12.2009

Und tatsächlich begann Gott mein naives Gebet sofort zu erhören. Er nahm mir mit dem Ziel zukünftiger, viel größerer Segnungen Eines nach dem Anderen auf verschiedene Weise. Als erstes, also eigentlich sofort verlor ich die Zuneigung zu meinem damals zukünftigen Mann. Die folgende Verlobungszeit war für uns beide eine harte Zeit, die glücklicherweise mit unserer Hochzeit endete. Wir verliebten uns neu und tiefer als zuvor ineinander.
Nach dieser Hürde ging es mir für etwa zwei Monate sehr gut. Dann veränderte sich die Situation an der Arbeit dramatisch. Zum plötzlichen Stress und den vielen Überstunden kam noch Mobbing hinzu. Dann fing meine Gesundheit an einzuknicken und in den folgenden Monaten wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. Meine Beschwerden wurden immer stärker, ich musste kündigen. Die erste OP wurde durchgeführt. Wir zogen Hals über Kopf von Hessen nach Nordrhein-Westfalen, wo wir kurzfristig bei meinen Schwiegereltern unterkamen. 
Seit meinem Gebet waren 15 Monate vergangen. Da saß ich nun, krank, erschöpft und arbeitslos in einem kleinen Zimmer, bei einer Familie, die ich bis dahin kaum kannte, weit weg von meiner geliebten Familie, meinen Freunden, meiner Gemeinde und der bekannten Umgebung. Ich war gerade so an einem Burnout vorbeigeschlittert, die OP war gerade 3 Wochen her, nach der ich kaum bei Kräften den Umzug organisieren musste. In meinem Kopf gab es nur noch ein heilloses Durcheinander.

So begann die Zeit, in der ich Gott und die Welt nicht mehr verstand. Erst suchte ich ihn nicht mehr, dafür fand ich einfach keine Zeit und Kraft mehr, und dann fand ich ihn nicht mehr. Nach diesen Monaten der Entfremdung schien mir Gott so weit entfernt zu sein, meine Gebete verkümmerten zu Selbstgesprächen. Leider blieb dies über 2 Jahre mehr oder weniger so. Dann begegnete mir Gott in meiner Verzweiflung und richtete mich wieder auf. Aber es dauerte noch Jahre, bis sich mein Vertrauen wieder aufgebaut hatte, dafür aber auf eine tiefere innigere Weise als zuvor. 

Wie lange, o HERR, willst du mich ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir?
Wie lange soll ich Sorgen hegen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen tragen Tag für Tag? (…)
Schau her und erhöre mich, o HERR, mein Gott!

» Psalm 13,2-4

Auch Hiob erlebte dies, und zwar sehr viel dramatischer und schrecklicher als ich. Es begann an dem Tag, als seine Kinder den Geburtstag seines ältesten Sohnes feierten. Wahrscheinlich traf er wie bei jedem Geburtstag seiner 7 Söhne schon die Vorbereitungen für die Brandopfer am nächsten Tag, wenn er für seine Kinder vor Gott eintreten wollte. Er befürchtete, dass sie sich in ihrem Herzen von Gott losgesagt haben könnten. Und nun sollte er selbst geprüft werden, ob er denn in der schwersten Not „Gott ins Angesicht absagen würde“.

Nachdem ihm nun seine Kinder, sein Habe und seine Gesundheit genommen waren, besuchten ihn seine Freunde. Diese waren so entsetzt, dass sie eine ganze Woche lang schweigend neben ihm saßen. Als Hiob endlich das Wort ergriff, verfluchte er zuerst den Tag seiner Geburt, seinen Geburtstag.

Eliphas, der ihm als erstes antwortete, riet ihm: „Ich jedoch würde Gott suchen und Gott meine Sache darlegen…“ (Hiob 5,8) Und tatsächlich richtete Hiob in seinen folgenden Reden viele Gebete an Gott, voller Verzweiflung und Dringlichkeit. 
In seiner letzten Rede riet Eliphas Hiob noch einmal: „Versöhne dich doch mit Ihm und mache Frieden! Dadurch wird Gutes über dich kommen. (…) Dann wirst du dich an dem Allmächtigen erfreuen und dein Angesicht zu Gott erheben; du wirst zu ihm flehen, und er wird dich erhören, und du wirst deine Gelübde erfüllen.“ (Hiob 22,21.26-27)

Aber Hiob antwortete ihm verzweifelt: „O dass ich wüsste, wo ich ihn fände, dass ich bis zu seinem Thron gelangen könnte! Ich würde ihm [meine] Rechtssache vorlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen. Ich möchte wissen, was er mir antworten, und erfahren, was er zu mir sagen würde. Würde er in seiner Machtfülle mit mir streiten? Nein, er würde mich gewiss anhören. Da würde ein Redlicher bei ihm vorsprechen, und ich würde auf ewig frei ausgehen von meinem Richter. Wenn ich aber nach Osten gehe, so ist er nirgends; wende ich mich nach Westen, so bemerke ich ihn nicht; wirkt er im Norden, so erblicke ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so kann ich ihn nicht sehen.“ (Hiob 23,3-9)

Hiob verstand Gott nicht mehr und fühlte sich ungerecht behandelt. Sein Flehen schien Gott entweder nicht zu hören oder zu bewegen.

*****

Dabei hatte Gott schon zu ihm geredet, wahrscheinlich noch bevor die Freunde bei ihm ankamen. Das lässt Hiobs Antwort auf Eliphas erste Aufforderung vermuten.

Er antwortete mit dem Gebet: „Wenn ich denke: Mein Bett wird mich trösten, mein Lager wird meine Klage erleichtern!, so erschreckst du mich mit Träumen und ängstigst mich durch Gesichte, sodass meine Seele lieber ersticken möchte und ich lieber tot wäre, als ein Gerippe zu sein.“ (Hiob 7,13-15)

Er verstand, dass Gott eine Botschaft für ihn hatte, aber nicht, was genau er ihm sagen wollte. Er fürchtete sich sehr davor, ja er fürchtete es sogar mehr als den Tod!

Deswegen sandte ihm Gott Elihu, der ihm auslegen konnte, was er Hiob sagen wollte: „…Gott redet einmal und zum zweiten Mal, aber man beachtet es nicht. Im Traum, im Nachtgesicht, wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt und sie auf ihren Lagern schlummern, da öffnet er das Ohr der Menschen und besiegelt seine Warnung an sie, um den Menschen von seinem Tun abzubringen und den Mann vor dem Hochmut zu bewahren, damit er seine Seele vom Verderben zurückhalte, und sein Leben davon, in den Wurfspieß zu rennen.“ (Hiob 33,14-18) Gott wusste, zu welcher Diskussion es kommen würde und wollte Hiob vor Hochmut warnen. 

Doch Hiob hatte es nicht verstanden. Umso mehr die Freunde auf die Bosheit Hiobs bestanden, umso mehr sah er sich als gerecht an, und warf Gott vor ihn zu unrecht zu bestrafen. Also schwieg Gott, bis den Freunden und auch schließlich Hiob die Worte ausgingen, Elihu ihm die nächtlichen Gesichte ausgelegt und ihn auf Gottes Reden vorbereitet hatte. „Dann schreien sie, doch Er antwortet nicht wegen des Übermuts der Bösen… Auch wenn du sagst, du könntest ihn nicht sehen, so liegt die Rechtssache doch vor ihm; warte du nur auf ihn!“ (Hiob 35,12.14)
Als Gott dann endlich zu Hiob redete, sah Hiob seinen Hochmut ein, demütigte sich vor Gott und war bereit neuen, größeren Segen zu empfangen.

In überwallendem Zorn habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen;
aber mit ewiger Gnade will ich mich über dich erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.

» Jesaja 54,8

Und auch Jesus musste diesen Schmerz erleben. Aus tiefster Seele schrie er am Kreuz aus: 

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Im 22. Psalm finden wir das prophetisch festgehalten:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum bleibst du fern von meiner Rettung, von den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, und du antwortest nicht, und auch bei Nacht, und ich habe keine Ruhe.“ (Verse 2-3) 

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C.H. Spurgeon schrieb dazu:

„Warum bleibst du fern von meiner Rettung, von den Worten meiner Klage?“
Der Mann der Schmerzen hatte gebetet, bis ihm die Sprache ausging; er konnte nur noch schreien oder stöhnen, wie es Menschen etwa in schwerer Krankheit tun, oder wie ein verwundetes Tier, das vor Schmerz brüllt. Und dennoch war es, als verhallte sein Geschrei ungehört, fern von seiner Hilfe, das ist von seinem Helfer. Bis zu welch äußerstem Grad des Schmerzes wurde unser Herr und Meister getrieben! Welch starkes Geschrei mit Tränen (Hebräer 5,7) muss es gewesen sein, das ihn so heiser machte, dass er nicht mehr sprechen konnte! Wie hoch muss seine Angst gestiegen sein, als er seinen geliebten Vater fernstehen sah, weder Hilfe gewährend noch auch, allem Anschein nach, auf sein Gebet merkend. Das war Anlass genug, ihn zum Stöhnen zu bringen. Dennoch war dies alles wohlbegründet, wie alle, die sich in Jesus als ihrem Stellvertreter bergen, in Sicherheit wissen.

„Mein Gott, ich rufe bei Tag, und du antwortest nicht, und auch bei Nacht, und ich habe keine Ruhe.“
Wenn unsere Gebete etwa ungehört zu verhallen scheinen, so ist das keine unerhörte Prüfung: Jesus hat sie vor uns durchgemacht; und es ist bemerkenswert, dass er trotzdem im Glauben an Gott festhielt, wie das sein erneuter Ruf Mein Gott zeigt. Andererseits schwächte sein Glaube nicht die Dringlichkeit seines Bittens ab; denn inmitten des Getümmels und der Gräuel jenes Schreckenstages schrie er ebenso unablässig zu Gott, wie er in der düsteren Nacht Gethsemanes in seiner Todesangst mit Gott gerungen hatte. Unser Heiland hielt an im Gebet, obwohl ihm keine tröstliche Antwort zuteilwurde. Darin hat er uns ein Beispiel der Befolgung seiner Worte gegeben, dass man allezeit beten und nicht müde werden solle (Lukas 18,1). Kein Tageslicht zu ist grell und keine Mitternacht zu dunkel um zu beten; und keine Verzögerung oder scheinbare Verweigerung der Antwort, so schmerzlich beides sein mag, sollte uns verleiten, vom dringlichen Flehen abzulassen. (a)

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„Daher musste er in jeder Hinsicht den Brüdern ähnlich werden, damit er ein barmherziger und treuer Hoherpriester würde in dem, was Gott betrifft, um die Sünden des Volkes zu sühnen; denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, kann er denen helfen, die versucht werden.“ (Hebräer 2,17-18)

Jesus weiß, wie du dich fühlst und hat Mitleid mit dir. Schaue und warte auf ihn…!

Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes,
so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis!
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der kein Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten,
sondern einen, der in allem versucht worden ist in ähnlicher Weise [wie wir], doch ohne Sünde.
So lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade,
damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe!

» Hebräer 4,14-16

(a) C.H. Spurgeon, "Die Schatzkammer Davids", Buch 1, S. 690, CLV Verlag